Die Szenerie könnte festlicher sein: Angela Merkel muss sich ihren Weg durch ein Spalier wütender Viehlandwirte bahnen, die vor dem Kongresszentrum einen Mistkarren aufgefahren haben und lautstark höhere Milchpreise fordern. Dabei soll die Stimmung doch gut sein. Guido Wolf, CDU-Spitzenkandidat der baden-württembergischen Landtagswahl, hat die Parteibasis in seine Heimatstadt Weingarten geladen. Davon verspricht er sich noch einmal Unterstützung für die entscheidende Phase des Wahlkampfs. Auf der Bühne lächelt der Herausforderer desMinisterpräsidenten Winfried Kretschmann (Grüne) überlebensgroß von einem Plakat. Das Stadtorchester spielt zur Begrüßung Marschmusik.
Ginge es nach den letzten Umfragen, könnte Wolf ein schwarz-rotes Bündnis anführen – womöglich verstärkt durch eine wiederbelebte Südwest-FDP. Könnte, wohlgemerkt. Denn die Parteibasis fürchtet, dass Merkels als zu liberal empfundene Flüchtlingspolitik einem glänzenden Wahlerfolg am 13. März im Weg stehen könnte. „Ich hab Bedenken“, sagt zum Beispiel Erwin Bieger, CDU-Ortsvorsitzender aus Ravensburg-Berg, zum möglichen Ausgang der Landtagswahl. Gegen den unreglementierten Zuzug von Flüchtlingen nach Deutschland seien ja „ganze Teile der Bevölkerung“. Iris Herzogenrath vom CDU-Stadtverband Weingarten sagt, sie bewundere Merkel. Und dennoch: „So kann’s nicht weitergehen.“ Die Kanzlerin müsse „Kompromisse machen“, und das wohl schon beim EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag in Brüssel.
Diskussionen über Flüchtlinge im Kloster
Auf der Bühne kommt Merkel – nach dem erwarteten Lob für den CDU-Spitzenkandidaten – direkt auf diese Ambivalenz der Gefühle zu sprechen. Sie wisse, die Flüchtlingspolitik sei das, „was Sie im Wahlkampf beschäftigt“, sagt sie zu den knapp 1.000 Delegierten im Saal. Und Merkel weiß, wo sie sich befindet: nicht nur in Wolfs Heimatrevier, sondern auch in der Stadt mit dem berühmten Barockkloster, in das die katholische Kirche vor ein paar Monaten Flüchtlinge einziehen ließ. In sozialen Medien wurde gemutmaßt, Muslime könnten die altehrwürdigen Kreuzgänge der früheren mönchischen Gemeinschaft entweihen. Merkel spricht die Ängste an: „Ich weiß, dass es bei Ihnen Diskussionen gab, dass Flüchtlinge im Kloster leben, und dass man fragt, was bedeutet das?“
Guido Wolf wird später in seiner Rede sagen, er sehe „mit Sorge, dass die Sankt-Martins-Umzüge zu Sonne-Mond-und Sterne-Festen“ gemacht würden. „Leben wir unsere christlichen Traditionen, dann brauchen wir uns keine Sorgen zu machen.“ Dafür gibt es den wohl lautesten Beifall des Spätnachmittags.
Merkel verändert ihre Akzente, nicht ihre Haltung
Merkel hat ihre Haltung zur Flüchtlingsfrage nicht geändert, aber sie spricht vor der Basis mit veränderter Akzentuierung. Diejenigen, „die keinen Schutz brauchen, die vielleicht aus wirtschaftlichen Hoffnungen kommen, denen müssen wir nach einem rechtsstaatlichen Verfahren sagen: Ihr müsst unser Land wieder verlassen“, sagt sie, bevor sie auf Artikel 1 des Grundgesetzes, auf die Genfer Konvention und die Unverbrüchlichkeit eines humanitär ausgerichteten Gemeinwesens zu sprechen kommt. Und bevor sie ihre eigene Geschichte anklingen lässt: Sie habe „ganz persönlich davon profitiert“, dass „über 40 Jahre lang“ Christdemokraten nicht aufgehört hätten, „an etwas zu glauben, woran der Großteil der Menschen schon nicht mehr geglaubt hat: an die deutsche Einheit“. Nationale Abschottung? Nicht mit Merkel.
Die Kanzlerin weiht ihre Zuhörer in ein erst wenige Stunden zuvor verabschiedetes „Strategiepapier“ des CDU-Bundesvorstandes zur Integration von Flüchtlingen ein. Demnach sollen Flüchtlinge unter anderem schon in den Erstaufnahmeeinrichtungen zur Teilnahme an Deutschkursen verpflichtet werden, Deutschkenntnisse sollen überhaupt zu einer Bleibevoraussetzung werden, und Flüchtlinge sollen besseren Zugang zum Arbeitsmarkt bekommen, zum Beispiel zu Ein-Euro-Jobs.
Zudem wolle die Bundesregierung Flüchtlingen in Lagern in Syrien oder Jordanien unmittelbarer helfen. „Das Beste ist, man bleibt in der Nähe seiner Heimat.“ In Absprache mit Finanzminister Schäuble habe sie beschlossen, im laufenden Jahr das Welternährungsprogramm mit 1,3 Milliarden Euro zu unterstützen – „damit die Menschen nicht kommen, weil sie nicht genug zu essen haben“. Im vergangenen Jahr, so habe sich herausgestellt, seien beispielsweise in Jordanien die Essensrationen für Flüchtlinge drastisch gekürzt worden, was neue Massenbewegungen ausgelöst habe. „Vielleicht hätten wir da genauer hingucken müssen“, räumt die Kanzlerin ein.
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