Horst Seehofer formuliert es drastisch: „Die Lage für die Union ist höchst bedrohlich“, sprach der CSU-Chef zur „Süddeutschen Zeitung“. Nur 19 Prozent der Stimmen hat die Kanzlerpartei am Sonntag in der Heimat der Kanzlerin bekommen, die Aussichten auf die Bundestagswahl verdüstern sich.
Die Flüchtlingskrise war zweifellos Auslöser für den Vertrauensverlust in die Union. Doch die Ursachen dafür sind viel älter – zu finden sind sie im Wesen der beiden Kontrahenten Angela Merkel und Horst Seehofer.
Die erste Ursache liegt im Politikverständnis Angela Merkels. Von kontroversen Debatten hält die Kanzlerin wenig. Das mitreißende Werben für ihre Politik ist keine Stärke der Kanzlerin.
Die faktische Entpolitisierung des politischen Betriebs
Die vergangene Bundestagswahl konnte Angela Merkel mit nur einem einzigen Satz gewinnen: „Sie kennen mich.“ Damit war klar: Die Bürger mussten sich um Politik eigentlich nicht mehr kümmern, dafür war ja die Kanzlerin da.
Diese faktische Entpolitisierung des politischen Betriebs brachte die Opposition zur Weißglut, denn sie fand kein Mittel dagegen. In der Flüchtlingskrise hat sich das grundlegend geändert: Die Frustration in der CSU und der Erfolg der AfD sind auch Folgen der von Merkel vernachlässigten Streitkultur. Bei vielen Bürgern ist der Eindruck entstanden, ihnen werde mit der Flüchtlingspolitik etwas vorgesetzt, zu dem sie nichts zu sagen hatten. Und einen wurmt dieses Gefühl ganz besonders: Horst Seehofer.
Bei ihm findet sich die zweite Ursache für die prekäre Lage der Union: das Politikverständnis der CSU und ihres aktuellen Vorsitzenden. Die CSU ist nicht nur eine Partei mit programmatisch verankerten Werten und Zielen. Sie ist, wie der Journalist Herbert Riehl-Heyse einmal geschrieben hat, „die Partei, die das schöne Bayern erfunden hat“. Sie hat es geschafft, so sehr mit ihrem Bundesland identifiziert zu werden, dass ein Regierungswechsel dort praktisch undenkbar geworden ist, so undenkbar wie die spontane Verflüssigung des Steinernen Meeres in den Berchtesgadener Alpen. Sie ist ein Politik gewordenes „Mia san mia“, mehr Prinzip als Partei – und damit unfähig zum Kompromiss.
Gleichzeitig regieren und Opposition betreiben
Tatsächlich geht die CSU zwar oft genug Kompromisse ein, räumt Positionen, scheitert krachend und erweist sich bisweilen als korrupt, aber all das möglichst stillschweigend. Eine Umkehr der lautstark und immer wieder postulierten Gegnerschaft zu Merkels Flüchtlingspolitik ist Horst Seehofer nicht möglich, sie käme seiner Entmannung gleich.
Das bizarre Kunststück, in der Bundesregierung zu sitzen und dabei gleichzeitig von München aus Opposition zu betreiben, hat der CSU in der Vergangenheit die Stimmen in Bayern gesichert und damit die Machtbeteiligung im Bund mit der CDU. Das funktioniert aber nur, wenn ihre Wähler den Eindruck haben, die CSU habe tatsächlich Einfluss auf ihre Schwesterpartei und die Bundespolitik. In der Flüchtlingskrise jedoch sind die Mahnungen des CSU-Vorsitzenden im Kanzleramt regelmäßig abgeschmettert worden. Horst Seehofer wirkt, je nach Sichtweise, wie die verzweifelte, aber unerhörte Stimme der Vernunft – oder wie ein uneinsichtiges, quengelndes Kind. In jedem Fall wirkt er alles andere als erfolgreich.
Das mag im Übrigen damit zu tun haben, dass die Position der CSU in der Flüchtlingskrise trotz markiger Worte eher diffus bleibt. Wenn beispielsweise Stephan Mayer von der CSU, der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, im Deutschlandfunk sagt, die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung von heute „sei ja eine ganz andere als vor einem Jahr“ und „so zu tun, als hätte sich in den letzten Monaten nichts geändert, wäre ja auch eine Verkennung der Tatsachen und der Realität“ – wie soll das zusammenpassen mit den Einlassungen seines Parteichefs, der sich in der „Süddeutschen“ einmal mehr heftig darüber beschwert, seine „mehrfache Aufforderung zur Kurskorrektur“ sei nicht aufgenommen worden?
Die größte Gefahr für die Union ist ihre Spaltung
Was meint Seehofer, wenn er sagt, die Menschen wollten „diese Berliner Politik nicht“ und die Flüchtlingspolitik sei „nur ein Ventil, die Problematik liegt wesentlich tiefer“, er sei überzeugt, „dass dahinter eine Systemkritik steckt“? Seehofers Worte klingen kaum nach konstruktiver Suche nach Gemeinsamkeiten. Sie klingen eher, als wolle er sich rhetorisch anbiedern an die Klientel der AfD, bei der ebenfalls viel die Rede ist vom System der „Altparteien“, das es zu zerschlagen gilt und von der „Berliner Politik“ – mit dem feinen Unterschied, dass die von Seehofer geleitete Altpartei nach wie vor regierender Systembestandteil dieser Berliner Politik ist.
Die größte Gefahr für die Union ist ihre Spaltung – niemand wird einer Gruppierung seine Stimme geben wollen, von der unklar ist, was sie eigentlich will. Seehofer fordert daher zurecht eine „klare Orientierung“ der Union. Tatsächlich bietet Merkel diese klare Orientierung aber längst an – klarer jedenfalls als Seehofer.
Er wird zuerst bei sich selbst für Klarheit sorgen müssen. Will er weiterhin mit destruktiver Kritik an der Flüchtlingspolitik den Eindruck befeuern, die eigene Regierung habe die Lage nicht im Griff? Oder will er sich, gerade noch rechtzeitig im letzten Jahr dieser Legislaturperiode, zur bundespolitischen Regierungsverantwortung bekennen und also die Politik dieser Regierung intern mitgestalten und nach außen dann erklären und vertreten?
Solange er sich nicht entscheidet, ist Horst Seehofer nicht nur bayerischer Ministerpräsident und Vorsitzender der CSU – er bekleidet zudem höchst erfolgreich die Position des ehrenamtlichen Chefwahlkämpfers der AfD.