Zum Tode Lord George Weidenfelds: Der Oberlord des Westens

Nicht viele Menschen werden ohne irgendeinen Titel, fern der britischen Inseln geboren und sind am Ende ihres Lebens Mitglied im britischen Oberhaus, also „Lord“, und Träger des höchsten Ritterordens Ihrer Majestät, also „Sir“. Und noch viel weniger Menschen verkörpern diese Würden so stilsicher, stolz und zugleich mit einem veritablen Sinn, wie es der 1919 in Wien geborene und nun verstorbene George Weidenfeld getan hat.

Während wir als Kinder den „kleinen Lord“ im Fernsehen liebten, war George Weidenfeld für viele Erwachsene, die ihn kennenlernten, ein „großer Lord“ – vielleicht der größte in unserer Zeit und der letzte seiner Klasse, die er auf verblüffend intuitive Weise verkörperte und zugleich gekonnt zu inszenieren und zu kultivieren wusste.

Keine Frage: In einem konventionellen Sinne war George Weidenfeld unheimlich etabliert. Doch er selbst wusste nur zu gut, dass er nirgendwo ganz dazugehörte. Zwar war er ein Insider vieler Themen, blieb aber zugleich immer und überall außen vor, ganz konkret in der britischen Politik, wo er ein „Cross-Bencher“ war, ohne feste Parteizugehörigkeit – oder wie man in der Sprache seines deutschen Freundes Helmut Kohl sagen würde: „ohne Stallgeruch“.

Weidenfeld war also in Wahrheit von einer enormen Unkonventionalität geprägt – bestimmt unterfüttert mit einer Portion Subversion, die biografisch schon damit angelegt war, dass er 1938 aus Wien nach London in die Obhut der Familie Rothschild geflohen war, wo er auf eine Stellenanzeige der BBC stieß und als Jude zum kritischen Berichterstatter über Deutschland wurde. Damals entdeckte Weidenfeld seine parodistischen Fähigkeiten, mit denen er Adolf Hitler bis zuletzt besser imitieren konnte als Bruno Ganz oder Helge Schneider.

Die vierte Ehe war eine glückliche

George Weidenfeld mochte keinen Rotwein, sondern Apfelsaft. Er gab irgendwann das Rauchen auf. Und wenn man ihm Blumen mitbrachte, wollte er sie gar nicht sehen, sondern rief seinen Hausdiener herbei, der ihn mit „Milord“ ansprach und die Blumen rasch zur Gattin Annabelle brachte. Sie hatte mit Arthur George Weidenfeld eine ganz andere Tradition jenseits aller Lord-Titel begründet: Als die beiden 1992 heiraten, hatte sie bereits eine Beziehung mit dem Pianisten Arthur Rubinstein hinter sich. Weidenfelds vierte und letzte Ehe mit Annabelle, die eine glückliche war, hatte er einmal augenzwinkernd so erklärt: „Annabelle runs me.“

Er beliebte zu scherzen – und das in alle Richtungen, vor allem über sich, seine Herkunft und seinen Weg. Meistens in einer Tonlage, die den Witz für ein paar Sekunden wie eine gewöhnliche Aussage tarnte, so dass man ein wenig Zeit hatte die Pointe selbst zu begreifen und auf sich wirken zu lassen – bis er dann selbst anfing zu lachen.

Je älter Weidenfeld wurde, desto angesehener war er. Und egal, wie mächtig diejenigen waren, die ihn trafen – ob Hillary Clinton oder Helmut Kohl, ob Angela Merkel oder Schimon Peres: Sie spürten, dass er ihnen irgendetwas voraus war. Irgendetwas mit Freiheit, mit Geist. Und ganz viel mit Spaß. Bezeichnend war seine Faszination für die in jeder Hinsicht extravagante Beziehung zwischen der Schriftstellerin Vita Sackville-West und dem Diplomaten Harold Nicolson. Weidenfeld hatte Nicolson bei der BBC kennengelernte. Aufgeschrieben wurde die Geschichte des Paares übrigens von ihrem Sohn Nigel Nicolson – und gedruckt in einem Verlag, der nach der Veröffentlichung von Vladimir Nabokovs Roman „Lolita“ für viele Jahrzehnte eine Hauptzentrale extravaganter Publizistik im 20. Jahrhundert bildete: Weidenfeld & Nicolson.

Eine zweite Eigenschaft, die George Weidenfeld groß machte, war seine Großzügigkeit. Wenn er wollte – und diese Voraussetzung ist einem selbstbestimmten Unternehmer nicht vorzuwerfen – teilte er Ideen, Zeit und Kontakte zu Menschen. Und wieder war das Besondere im Vergleich zu vielen etablierten Menschen, dass er wirklich gute Ideen, wirklich wertvolle Zeit und wirklich beeindruckende Menschen im Angebot hatte. Sein goldenes Adressbuch beschrieb er mir gegenüber einmal schmunzelnd als „Facebook ohne Internet“ – so wie er überhaupt die vernetzte Existenz der Juden als eine Art „tausende Jahre altes Facebook“ betrachtete, in deren Tradition er sich ohne Zweifel sah und in der er handelte.

Neugierig bis ins hohe Alter

Ich habe niemanden in seinem Alter kennengelernt (mein Großvater wurde 103), der andauernd so interessiert und gut informiert war wie er. Unter etablierten und erfolgreichen Menschen erleidet die Neugier manchmal schon mit 40 einen Abbruch. Mit 60+ sind Etablierte oft gar nicht mehr daran interessiert, was sich George Weidenfeld noch mit 95 zumutete: Fremde (oft viel jüngere) Menschen zu treffen, andere Meinungen zu hören, neue Zusammenhänge zu verstehen und sich daraus ein eigenes Bild zu machen – und das ist hier nicht als Anspielung auf Weidenfelds Verbindungen zum Axel Springer Verlag mit dessen Bild-Zeitung gemeint, die im übrigen nicht auf ideologische Bequemlichkeit und pomadiges Lagerdenken, sondern auf eine bemerkenswerte Freundschaft mit Verlagschef Mathias Döpfner baute.

Ich habe George Weidenfeld als ein Genie erlebt, das nach kleinen Gelegenheiten suchte, um daraus große Ereignisse zu machen. So erkläre ich mir sein Leben und seine vielen sagenhaften Erlebnisse, die wir heute auch einfach als „extrem cool“ bezeichnen würden. Er, der als Verleger die Memoiren von Polit-, Film- und Bühnenstars genauso millionenfach verbreitet hatte wie die von Päpsten, verstand es aus Zufällen Karrieren zu schmieden – nicht zuletzt seine eigene.

Aus einer Büroetage bei Marks & Spencer in London (dessen Eigentümer sein erste Schwiegervater war) konnte Weidenfeld die Gründung Israels bis ins Büro des ersten Präsidenten Chaim Weizman verfolgen, dessen Assistent er für ein Jahr wurde. Weil er kein dünnes Papier für ein eigentlich geplantes europäisches Debattenmagazin „Contact“ beschaffen konnte, entschied er sich kurzerhand dickes Papier zu ordern – und wurde Buchverleger. Später sprang er auf der Frankfurter Buchmesse als Gelegenheitsdolmetscher für Konrad Adenauer ein. Er machte aus seiner Büroangestellten Antonia Fraser eine internationale bekannte Bestsellerautorin.

Als Sammler herrlicher Papstabbildungen aus mehreren Jahrhunderten liebte Weidenfeld einen gewissen Pomp. Und er demonstrierte an den Wänden seiner Londoner Wohnung – nicht ohne den für ihn typischen Schuss Selbstironie -, dass er kein jüdischer Sektierer war, sondern sich religionsübergreifend für unsere westliche Zivilisation interessierte: mit ihren Traditionen, Ansprüchen und mit ihren vielen Macken. Dass er sich genauso für den Beitritt der Briten zur Europäischen Gemeinschaft einsetzte wie er später Margaret Thatcher zur deutschen Einheit geraten haben soll, das machte ihn wahrhaftig zu einem außerordentlichen Europäer.

Daraus spricht eine kosmopolitische Grundhaltung, wenn auch dieser Kosmos nicht ganz rund und allumfassend war. In seinem Kosmos‘ interessierte er sich zeitlebens für Politik – und das bis zum Schluss. George Weidenfeld war also nicht bloß ein hochdekorierter Mann im britischen Kosmos – sondern vor allem ein Weltbürger und ständig Weltreisender, wenn auch ganz bewusst nur auf den Gebieten jener Welt, die einst die Hochphase der Moderne und die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts beherrscht hatte, die ausgerechnet mit der Regentschaft Ihrer Majestät Queen Elizsabeth II zusammenfällt. Das machte Weidenfeld zu einer Art Oberlord des Westens, der ahnte, dass ein Zeitalter unwiederbringlich zu Ende geht und mit ihm eine Spezies vom Aussterben bedroht ist.

Was er bis zum 20. Januar 2016 erreichen wollte, lässt sich in einem Satz sagen: Verstehen und erklären, wie es zum Untergang seiner alten Welt kommt.

spiegel.de

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