Gibt Brüssel bald grünes Licht für die Visa-Freiheit von 79 Millionen Türken? Am Mittwoch will die EU-Kommission entscheiden, ob sie den Forderungen Ankaras nachgibt, auch wenn die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan die vereinbarten Bedingungen für die Visa-Liberalisierung nicht in vollem Umfang erfüllt.
Wie in Brüssel zu hören ist, hat die Türkei bereits 62 von 72 zu erfüllenden Aufgaben erledigt, die die EU ihr dafür auferlegt hatte. Die türkische Regierung kooperiere aufs engste. Daher werde damit gerechnet, dass die EU-Kommission am Mittwoch grünes Licht für die Aufhebung der Visumspflicht gibt.
Dass immer noch zehn EU-Voraussetzungen fehlten, wird nicht als großes Hindernis gesehen. Darunter seien einige Kapitel, die die Türkei jetzt noch gar nicht abhaken könne. Die Visumspflicht könnte womöglich schon Ende Juni fallen. Wenn die Kommission am Mittwoch grünes Licht gibt, haben die EU-Mitgliedsstaaten noch acht Wochen Zeit. Dies sei ausreichend, damit die Mitgliedsstaaten den Weg frei machen können für die Aufhebung der Visumspflicht.
Die türkische Regierung kämpft seit langem für die Aufhebung der Visumspflicht. Beim EU-Türkei-Gipfel am 18. März hatten beide Seiten nicht nur den 1:1-Austausch von Flüchtlingen und Maßnahmen beschlossen, die den Menschenhändlern das Handwerk legen sollen. Ankara wurde auch eine schnellere Entscheidung bei der Visumsfrage versprochen. Ursprünglich hatte Brüssel die Gewähr der Visa-Freiheit an 72 Bedingungen geknüpft. Sie betreffen unter anderem die Bereiche Dokumentensicherheit, öffentliche Ordnung und Sicherheit sowie Grundrechte
Viele Zweifel, ob der „Blankoscheck“ für den türkischen Staat gedeckt ist
Damit die Reisefreiheit tatsächlich in Kraft treten kann, müssen nach der Kommission der Rat der EU-Mitgliedstaaten und das Europaparlament zustimmen. Mit erheblichem Widerstand ist zu rechnen. Große Vorbehalte unter den Ratsmitgliedern gibt es etwa in Polen, Ungarn und Österreich. Sie treibt unter anderem die Sorge um, im Zuge der Visafreiheit könnten viele türkische Staatsbürger in der EU Asyl beantragen oder nach Ablauf von drei Monaten illegal in der EU bleiben.
Auch im EU-Parlament wollen etliche Abgeordnete nicht die Hand für eine Vorzugsbehandlung der Türkei heben, allzumal Erdogans Regierung nicht zu Zugeständnissen in einem zentralen Punkt bereit zu sein scheint – bei den Anti-Terror-Gesetzen. Sie ermächtigen die türkische Regierung zu einem harten Vorgehen gegen all jene, die sie für Terroristen hält; auch kritische Journalisten werden auf Grundlage dieser Gesetze mundtot gemacht.
Selbst in der kompromissbereiten EU-Kommission ist laut „Spiegel“ von einem „Blankoscheck“ für den türkischen Staat die Rede. Das türkische Recht sei nur schwer mit der Europäischen Menschenrechtskonvention zu vereinbaren. Dass etwa EU-Parlamentspräsident Martin Schulz unter diesen Bedingungen für ein Ja zu den Visa-Erleichterungen werben würde, ist kaum vorstellbar. Äußern will sich der einflussreiche SPD-Mann aber erst, wenn die Kommission ihre Empfehlung vorgelegt hat.