Naturkatastrophe in Italien: Zahl der Opfer nach Erdbeben steigt auf mindestens 120

Wieder bebt die Erde kurz. Erschrocken fahren die Menschen zusammen. Gerade noch suchten sie Schutz vor der Sonne unter einem der wenigen noch heilen Dächer. Doch nun ist es sicherer auf dem Innenhof der zerborstenenKirche. Plötzlich ist da ein Spalt im Boden. Eine Frau weiß nicht, auf welcher Seite sie stehen soll. Sie schreit, sie weint, die Gemeindeschwester nimmt sie in den Arm. Beide gehören zu den Bürgern von Amatrice, die ihre Stadt an diesem schicksalshaften Morgen verloren haben und sie doch nicht verlassen wollen.

Am Dienstag zählte die Gemeinde in der Provinz von Rieti in den Apenninen noch zum „Club der schönsten italienischen Orte“, wie es stolz auf einem Hinweisschild geschrieben steht: mit einladenden Plätzen, hell gestrichenen Häusern, bunten Blumenkästen vor den Fenstern. Zwar lebten dort nur 3000 Menschen, aber Tausende Gäste verbrachten auch in diesem Sommer – wie jedes Jahr – hier ihren Urlaub. Dann kam die Nacht zum Mittwoch. Um 3.36 Uhr wurde Amatrice im Norden der Region Latium zum Katastrophengebiet, so wie Arquata und Accomuli in der Nachbarschaft. Am Mittwochabend liegt die Zahl der Toten bei mindestens 120. „Und diese Bilanz ist nicht endgültig“, sagt Italiens Regierungschef Matteo Renzi.

„Der Ort ist nicht mehr“, sagt Amatrices Bürgermeister Sergio Pirozzi Stunden später und spricht von einem „Drama“ und einem „Trümmerhaufen“. Er hat Tränen in den Augen, aber vor allem den Staub der Trümmer im Gesicht, an Kleidung und Schuhen. Sein Ort Amatrice prangte einst wie die Bergkrone auf einem Felssporn. Unten fließt der Tronto und liegt ein Stausee, der offenbar so viel von der Stärke des Bebens schluckte, dass insgesamt nur drei Orte zerstört wurden.

Die Helfer haben keine Zeit für eine Mittagspause

Unten am See herrscht geradezu tiefer Frieden. Die Leute in der Gastwirtschaft fragen sich, ob sie nicht allein schon wegen der Hilfskräfte und der Journalisten ihre Osteria zum Mittagessen öffnen sollen. Doch während noch die Bürger in schwer beladenen Wagen ihre Heimat verlassen und eilends Amatrice hinter sich lassen, rücken noch immer weitere Helfer in den Ort zur Arbeit vor. Sie haben keine Zeit für eine Mittagspause. Sergio von der Guardia Forestale, dem Forstschutz, raucht mit seinen Kameraden wenigstens eine Zigarette. Aber dann geht es auch schon wieder weiter zu dem Trümmerhaufen namens Amatrice, an dem Zivilschutz, Feuerwehr, Rotes Kreuz und andere Institutionen helfen.

Gleich hinter dem Ortseingang und der Kirche arbeitet sich ein Bagger behutsam in einen Müllberg vor, der einst ein Wohnhaus war. „Hier ist niemand mehr. Wir müssen weiter vor“, sagt ein Carabiniere in sein Mobiltelefon und ruft einige Helfer zur Stelle. Das Tier des Hundeführers Ignazio hat vor Minuten eine unbekannte Anzahl von Verschütteten ausgemacht. „Ja, da könnte noch jemand sein“, mischt sich ein Anwohner ein. Über dem Ort kreist ein Rettungshubschrauber. Längst ist die kleine Straße aus dem Ort hinab zur Salaria, der alten Senatorenstraße der Römer, die bis heute hier noch die wichtigste Verkehrsachse ist, verstopft.

Aus dem Staub der Trümmer kommt Giuseppe. Er hat zwei Decken im Arm. Wozu? Es ist doch warm und sonnig. Die habe er mitgenommen, sagt der junge Mann, der vielleicht 20 Jahre alt ist, verstört. Mit mageren Worten berichtet er, dass er sich selbst aus seinem Schlafzimmer gebuddelt habe. Er habe Sterne gesehen und sei ihnen gefolgt.

Auch in Amatrice wächst die Zahl der Toten stetig

Und wieder ein Stoß. Wieder das Wanken der Nachbeben. Giuseppe nimmt es scheinbar gelassen hin. Dabei kann man sich daran nicht gewöhnen. Vielmehr wächst mit jedem Stoß die Angst vor dem möglichen nächsten, auch wenn die Blumen nur friedlich sanft im Wind wehen. Der Ort Amatrice hat freilich schon viele Erdbeben erlebt: Schon 1639, 1672, 1703 und 1737 bäumte sich hier der Felsen auf – und zerstörte immer wieder Teile des beschaulichen Ortes.

Der Hundeführer hatte Recht. Es gibt sehr viele Opfer. Mehrere Dutzend Verletzte werden bis zum Nachmittag gezählt. Die dreiköpfige Familie, die wenig später aus den Trümmern ihrer Ferienwohnung geborgen wird, gehört nicht dazu. Es gehe allen gut, sagt jemand, „nur ein paar Kratzer“. Allmählich greifen die Sicherheitskräfte härter durch und lassen die Journalisten im Unglücksgebiet nicht mehr tiefer in den Ort. „Nur wer Verwandte drinnen vermutet, darf weiter vor“, sagt ein Polizist.

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