Tod der Abgeordneten Jo Cox: Ein Land hält inne

Eine Woche vor dem B-Day wird die Lage ernst. „It’s War“ titelt der „Guardian“ am Donnerstag seine tägliche E-Mail am Morgen. Da hat Jo Cox noch exakt fünfeinhalb Stunden zu leben. „Es ist Krieg“? Keine brillante Idee für diesen Tag, den achtletzten vor dem EU-Referendum – aber wer rechnet mit einem Attentat, wo es doch um Politik geht. Nur um Politik. Und man sich in der ältesten parlamentarischen Demokratie der Welt befindet.

„Britain first!“ soll der Mörder gerufen haben, „Großbritannien zuerst!“, als er auf Jo Cox, 41, seit 2015 für Labour im Unterhaus, einsticht und schießt. „Britain First“ heißt eine islamfeindliche und EU-skeptische Partei. Die Ermittlungen konzentrieren sich jetzt auf einen möglichen rechtextremen Hintergrund. Weit diesseits wirklicher Sicherheit über das Motiv des Täters steht das Königreich unter Schock.

„Ein Angriff auf Menschlichkeit, Idealismus und Demokratie“ befindet wieder der „Guardian“, unter den eher konservativen britischen Zeitungen die linksliberale Ausnahme. Der Leitartikel, der Jo Cox als Verkörperung all dieser Werte und Qualitäten würdigt, beklagt den „spaltenden und widerlichen“ Kampf, der um die Stimmen der Wähler tobt.

Kampf. Krieg. Gut, die Briten haben den skurrilsten Humor mindestens Europas. Und vom großen Britannien auf seinem Weg zur Entscheidung – „In or Out?“, also: Drinbleiben oder raus? – wäre auch schon vor dem Tod von Jo Cox ein noch größeres Schlachtengemälde zu fertigen gewesen. Es müsste so aussehen wie die Wimmelbilder für Kinder, damit darauf passt, was sich in rasend steigender Frequenz alles zuträgt zwischen Land’s End und Cape Wrath.

Am Donnerstagabend einigen sich die Kontrahenten auf eine Gefechtspause bis Samstag. „Jos Tod“, sagt ihre Parteifreundin Rosena Allin-Khan, die für Cox ins Unterhaus nachrückt, „erinnert uns, dass unsere Demokratie kostbar ist, aber zerbrechlich – wir dürfen nie vergessen, sie zu schätzen.“

„Wer Zorn anfacht . . .“

Achtung aber – zumal für die auf der jeweils anderen Seite der In-or-Out-Barrikaden – ist in den Vor-Referendums-Wochen zum Fremdwort mutiert. Nur Stunden vor dem Attentat in Birstall hat Nigel Farage, Chef der United Kingdom Independence Party (Ukip), so etwas wie die Speerspitze der Austritts-Betreiber, ein Plakat präsentiert. Es zeigt eine lange Schlange zumeist nicht weißer und männlicher Menschen. „Tiefpunkt“ steht in roten Großbuchstaben dabei – und: „Die EU hat uns alle im Stich gelassen.“ Farage wird noch am Donnerstag wegen Anstachelung zum Rassenhass angezeigt.

Der „Spectator“, das Wochenblatt der Konservativen und Kulturinteressierten, kommentiert Freitag früh online unter Verweis auf den Mord an Jo Cox an die Adresse Farages: „Wer den Zorn anfacht, darf später nicht Überraschung heucheln, wenn die Menschen zornig sind.“

Als Trick aber ist das Referendum ja auch gestartet. Auf dem Kontinent erinnert man sich kaum noch daran, wie es im Januar 2013 in die Welt gekommen ist: nicht im Regierungsviertel, auch nicht in den Houses of Parliament, sondern in der Zweigstelle des Finanzdatenhändlers Bloomberg.

Dort hatte Premier David Cameron von den Tories, den Konservativen, in einer groß angekündigten Europa-Rede die EU in leicht verschlungener Rhetorik als eine die Bürger frustrierende Einrichtung geschmäht, „die als etwas gesehen wird, das ihnen angetan wird, und nicht als etwas, das in ihrem Namen handelt“. Und dann versprochen, falls die Briten ihn 2015 wieder zum Regierungschef wählten, werde er sie entscheiden lassen, ob 44 Jahre EU genug seien.

Cameron wollte mit diesem Kniff die vielen eigenen Skeptiker besänftigen – und die europaverdrossenen Wähler von Ukip zurücklocken. Wenn der Prime Minister heute für den Verbleib wirbt, muss das Publikum sich diesen Anfang dazudenken, damit Camerons Erzählung sich rundet.

Das ist das Spannende und zugleich Vertrackte am Referendum. Dass es nicht die eine Drin- und die eine Raus-Geschichte gibt – sondern ein paar tausend Geschichten oder sogar um die 46 Millionen. So viele Wahlberechtigte dürfen abstimmen.

Was ein Wachmann denkt

Zu den In-or-Out-Geschichten gehört beispielsweise die von Wachmann Dave. Er arbeitet hart, sechs Tage die Woche, und hat Angst, dass irgendwann ein Anderer kommt aus Rumänien oder Polen, der für noch weniger Lohn schuftet als er. In der Kneipe, in der er sein Bier trinkt, sagen sie, Labour, die Arbeiter-Partei, habe die kleinen Leute verraten – und die EU alles noch schlimmer gemacht. Dave will auf jeden Fall raus.

Zu den In-or-Out-Geschichten gehört die von Sam, der nicht weiß, was für ihn besser ist, drin oder raus. Er will mehr Freiheit für Großbritannien – aber der Supermarkt, in dem er arbeitet, gehört Spaniern. Werden die gehen beim Brexit? Verliert er dann seinen Job?

Zu den In-or-Out-Geschichten gehört auch die von zwei Freunden, die auf verschiedenen Seiten kämpfen. Sie heißen David und Boris, und in Wahrheit sind sie gar keine richtigen Freunde – auch wenn sie es behaupten, seit sie gemeinsam in Eton waren und in Oxford. David ist der Premierminister; Boris will seinen Job. Exakt drei Monate vor dem Referendum hat Boris entschieden, für den Brexit zu sein – und also gegen David. Im Regierungsviertel heißt es, Boris sei, egal auf welcher Seite, gut für zehn Prozent. So wie es jetzt steht, hängt von der Rivalität zwischen David Cameron und Boris Johnson die Zukunft Großbritanniens ab – und auch die der EU.

Mit heißem Herzen

Zu den In-or-Out-Geschichten schließlich gehört die von Franklin Medhurst, Pilot der Royal Air Force im Zweiten Weltkrieg. Er ist 96 und hat dem „Guardian“ mit heißem Herzen einen Brief geschrieben. All seine Kameraden, Iren, Schotten, Walliser, Engländer, die wie er für die Demokratie gekämpft und Europa damit „70 Jahre Frieden und Sicherheit in einer weitgehend unsicheren Welt“ gebracht hätten, seien vergeblich gefallen, wenn das Königreich sich jetzt dem Brexit-„Betrug“ ergebe. „Wo auch immer in der Welt sie in der Erde liegen“, zürnt der Veteran, „sie werden mit ihren Knochen rasseln.“ Am Ende entscheiden mehr als der Verstand die Gefühle. Die emotionale Front verläuft quer durch die Parteien, sie zerreißt wirkliche Freundschaften und trennt Familien.

Aber eine Angelegenheit auf Leben und Tod? Bis Mittwoch halten die Briten ein kleines Gefecht auf der Themse für die gravierendste Konsequenz. Aus Richtung See ein paar Trawler, an Bord außer EU-überdrüssigen Fischern auch Ukip-Chef Farage.

In London treffen sie auf das Schiff von Bob Geldof, Musiker mit Weltrettungsmission, und richten statt Kanonen Wasserschläuche auf die dort versammelten EU-Freunde. Geldof schießt zurück mit 60er-Jahre-Popmusik.

Am Donnerstag stirbt Jo Cox. An Pistolenkugeln und Messerstichen.

In Köln steht da gerade der Mann vor Gericht, der dort im Wahlkampf die spätere Oberbürgermeisterin Henriette Reker niedergestochen und lebensgefährlich verletzt hat. Es war der 17. Oktober 2015, und in Deutschland bekriegten sich die Befürworter und die Gegner der Flüchtlingspolitik von Angela Merkel. Die Wortgefechte wurden mit jedem Tag schärfer.

„Manchmal“, schreibt Alex Massie im „Spectator“, „hat Rhetorik Konsequenzen.“ Und dass die Menschen zwar das Wetter nicht bestimmen können – aber sehr wohl das politische Klima.

Am Freitagmittag erklären die Tories, bei der Wahl von Jo Cox’ Nachfolgerin nicht anzutreten, damit Labour den Parlamentssitz behält. Auf dem Referendums-Termin aber beharren sie. Falls die Buchmacher recht haben, bleiben die Briten drin. Falls die Meinungsforscher, sind sie raus. Britische Wissenschaftler raten dazu, auf die Wettpaten zu setzen.

Wirklich sicher ist nur, das aber schon jetzt: Es wird auch nach dem 23. kein bisschen Frieden sein.

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